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Seume und seine Schwester

Seume und seine Schwester

An der Friedenseiche Nr.1 (Foto: K.W. Biehusen)

 

Im Zeichen Seumes und der "Noth"
Die Geschichte einer Spendenaktion

Nirgendwo auf der Welt gibt es derart viele Gelegenheiten, auf Spuren des „Spaziergängers“ und Aufklärers Johann Gottfried Seume (1763 – 1810) zu stoßen, wie in Leipzig. In dieser Universitätsstadt hat er studiert, hier hat die längste Zeit seines Lebens in immer wieder andern Wohnungen verbracht. Im (heutigen) Stadtteil Rückmarsdorf ist er womöglich nie gewesen. Und doch hatte der Heimatverein dieses ehemals eigenständigen Dorfes allen Grund, an Seume zu erinnern.

Im alten Dorfkern von Rückmarsdorf steht ein Haus, in dem einst Seumes Schwester Johanna Regina Seume (1764 – 1822) ab 1814 mit ihrer Familie Kindern lebte. Besser: die furchtbaren Folgen der „Völkerschlacht“ von 1813 überlebte. Das Gebäude trägt die Adresse „An der Friedenseiche Nr.1“, wurde zuletzt als HO-Laden genutzt und bedarf der Renovierung. „An der Teichmühle“, am Dorfrand, in einem geschickt renovierten und erweiterten Nebengebäude einer Wassermühle, erinnert der „Heimatverein Rückmarsdorf e.V.“ an den womöglich ersten Beweis für Johann Gottfried Seumes posthume Wirksamkeit als moralisches Vorbild: Um seinetwillen haben seine Freunde und Leser der notleidenden Familie Oehme zum Überleben verholfen.

Im Heimatmuseum von Rückmarsdorf finden Neugierige, was der Verein unter Leitung von Matthias Götz aus der Vergangenheit der Ortschaft zusammengetragen hat. Themenräumen sorgen für die Struktur im Museum. Die „Seumestube“ ist mit Objekten aus dem 19. Jh. möbliert – und unter anderem mit zehn Ausgaben von Seumes Werken ausgestattet. An der Wand hängen Bilder mit Seumebezug: etwa Portraits des Dichters, seiner Mutter Regina Seume, geb. Liebing (1738 – 1807) - und von seiner Schwester Johanna Regina, verheiratete Oehme.

Diese Seume-Schwester, ihr Ehemann, Johann David Oehme (um 1760 – 1834) und deren drei Kinder verdanken ihr Überleben einer Spendenaktion, losgetreten von Hanns Schnorr von Carolsfeld (1764 – 1841), Seumes Freund, und bis Wien Begleiter auf dessen „Spaziergang“ nach Syrakus. Wie diese Geschichte begann, ist einem Brief Schnorrs zu lesen, dessen Text Museumsbesucher auf dem Tisch in der „Seumestube“ finden.

Das Schreiben ist auf den 28. Dezember 1815 datiert. Sein Empfänger war Karl Ludwig August Heino von Münchhausen (1759 – 1836). Das war jener Offizier mit dem sich der Soldat Seume anfreundete, als beide in den Jahren 1782 und 1783 in Kanada stationiert waren. Der Inhalt des Briefs: ein Dankeschön für dessen Geldspende im Zuge der Spendenaktion zugunsten der Familie Oehme. Wie groß sie ausgefallen war, bleibt unerwähnt. Großmütig war sie auf jeden Fall: mit Seume verband Münchhausen nicht nur angenehme Erinnerungen.

Seumes Schwester, freut sich Schnorr in dem Dankesbrief „ist nun mit den Ihrigen gerettet – vom Bettelstabe gerettet.“ In seinen Memoiren hat er die Sammelaktion beschrieben, auf die sich das Schreiben in der „Seumestube“ bezieht. Den Hintergrund beschreibt der Heimatforscher Jochen Deweß (in einem Beitrag zur Leipziger Straßenzeitung „Kippe“): „Die napoleonische Besetzung, die Freiheitskriege und vor allem die Schlacht bei Leipzig hatten im Jahr 1813 zu katastrophalen Verhältnissen in der ganzen Umgebung geführt“ – also auch in Poserna, wo Seumes Schwester und ihre Familie zu der Zeit  lebte.

Schnorr von Carolsfeld erinnerte sich beim Abfassen seiner Autobiographie: Johanna Regina Oehme habe ihn „im Laufe des Jahres 1814“ in Leipzig aufgesucht und um Hilfe aus ihrer Not gebeten. „Gedrängt von allen Seiten trat des verewigten Bruders Schwester in mein Zimmer, und bat, ihr 50 Thaler als Darlehen zu beschaffen.“ Schnorr hatte sicher gute Gründe, sich selber für keinen kreditwürdigen Bürgen zu halten, denn erst 1816 wurde der Maler zum Direktor der Leipziger Kunstakademie ernannt. Aber sein Kummer über „das Loos der armen Leute“ brachte ihn auf eine Idee: er veröffentlichte einen Spendenaufruf. In ihm war zu lesen: „Wenn jeder nur, der des Bruders Schriften las, an den Unterzeichneten vier Groschen senden wollte, so wäre der leidenden Familie geholfen.“ Der erste Spender und Unterstützer war offenbar Christian August Heinrich Clodius (1772–1836), jener Leipziger Arzt und Professor, der an J. G. Seumes Sterbebett gesessen hatte und zusammen mit Seumes Freund und Verleger Georg Joachim Göschen (1752 - 1828) dessen Autobiografie („Mein Leben“) vollendete.

Der Aufruf zeigte eine überraschende Wirkung: „Und so erhielten wir, bald Clodius, bald ich aus der Nähe wie aus weiter Ferne bedeutende Summen, sehr oft begleitet von interessanten Briefen und mit dem Ausdruck des vollsten Vertrauens zugesendet, daß der Betrag im Laufe von 14 Wochen auf vierzehnhundert Thaler sich belief.“ An anderer Stelle, nämlich in dem oben erwähnten Brief an Münchhausen, ist von lediglich 700 Thalern die Rede. Ein verzeihlicher Widerspruch, dem zeitlichen  Abstand zum Geschehen geschuldet: Schnorr war 71 Jahre alte, als er „Meine Lebensgeschichte zugleich als ein Sonst und Jetzt in einem Zeitraum von 55 Jahren“ beendete.

Wie groß die Spende letztlich auch gewesen sein mag: als Schnorr an Münchhausen schrieb, hatte sich ihr Ertrag offenbar bereits weitgehend verflüchtigt: „Die Familie wohnt jetzt 2 kleine M. von Leipzig auf dem Wege nach Merseburg in dem Dorfe Rückmarsdorf; sie hatten die vorige Besitzung eine Strecke in Poserna 2 M. hinter dem merkwürdigen Lützen (also 6 Stunden von Leipzig) durch die Noth getrieben verkaufen müssen und nicht mehr als 400 Thaler noch herausbekommen.“ Weitere Probleme scheinen hinzugekommen zu sein, aber am Ende landete das Ehepaar in Rückmarsdorf.

Als Chronist von Rückmarsdorf hat Jochen Deweß die Familiengeschichte der Oehmes recherchiert und ist auf vier Generationen gutbürgerlicher Landwirte, Fleischer und Kramer gestoßen. Schon ihr Stammvater, Seumes Schwager Johann David Oehme, hat dieser Recherche zufolge außer der „Bauernwirtschaft“ eine Fleischerei und einen „Krämerladen“ betrieben – und sich offenbar wacker durchs Leben geschlagen. Sein Sohn Christian Friedrich wurde jedenfalls bei Einführung der Sächsischen Landgemeindeordnung im Jahr 1839 immerhin als Bürger der Klasse II (Personen die weniger als eine Hufe Land besaßen) geführt – und in den ersten Rat der Gemeinde Rückmarsdorf gewählt.

In Poserna hatten die Oehmes vor allem vom Ertrag einer kleinen Schenke gelebt. Johanna Regina hatte sie von ihrer Mutter geerbt. Sehr einträglich war sie vermutlich nie gewesen, schon gar nicht in Kriegs- und Nachkriegsjahren. Zudem hatte Johann David Oehme zu der Zeit offenbar mit persönlichen Problemen zu kämpfen. Schnorr von Carolsfeld erinnerte sich jedenfalls beim Verfassen seiner „Lebensgeschichte“, der Verlust ihrer Existenz sei für die Familie „…desto schmerzlicher (gewesen), je weniger der Mann, durch körperliche wie geistige Schwäche leidend, in dieser Noth eines Beistands fähig war…“. Schon in seinem Brief an Münchhausen hatte er sich ähnlich gäußert Seumes Schwager hätten „die unglücklichen Kriegsereignisse sehr niedergeschlagen und traurig gemacht.“ Wie eine Rechtfertigung seiner Spendenaktion klingt sein Hinweis auf die Verhältnisse der Familie seit ihrer Übersiedelung nach Rückmarsdorf: „Die bessere Perspektive erheitert ihn allmählich wieder in der Wirtschaft Antheil zu nehmen.“

Veit Hanns Schnorr von Carolsfeld hat sich zweifellos verdient gemacht. Einmal um die Familie Oehme. Und zum Zweiten um das Andenken seines Freundes Johann Gottfried Seume. Um dessen Anliegen wie er es verstand: Not erkennen und zu lindern suchen: „Bestimmung wars, - ich glaub‘ es fest – den Seinigen so zu dienen, wie es Seume selbst im Leben nicht vermocht!“. So schrieb er in seinen Memoiren. Und er stand mit seiner Einschätzung nicht allein Spenden für Seumes Schwester und deren Familie erreichten die Geldsammler Schnorr und Clodius „nämlich aus Niedersachsen, Holland, Schweden, Finnland, Polen, Liefland, Kurland, Rußland, Steuermark, Italien, aus Würtemberg, Bayern und anderen Ländern“.

Aber wäre Seume selber wirklich ähnlich spendabel gewesen? Eine Gelegenheit, sich großzügig zu zeigen hat er jedenfalls verpasst. 1798, der (gut bezahlte) Korrektor Seume quälte sich gerade in Grimma durch Kloppstocks Werke und Fehler, da bat ihn seine Schwester, in Poserna als Taufpate für ihr erstes Kind, Johanna Sophia anzutreten. Mäßig begeistert dankte Seume für die frohe Botschaft („… obgleich sie besser wäre, wenn der neue Abkömmling in Zukunft Hosen tragen könnte…“) – und sagte ab. Er habe keine Zeit („Drey Tage würde ich doch brauchen“): „Ich würde Göschen mit seinen ganzen Offizin in große Verlegenheit setzen und ihm Schaden verursachen.“

Später hat Seume offenbar seine Knickrigkeit bedauert – und seine konservative Haltung zu weiblichen Verwandte bestätigt. „Vor Weihnachten 1809“ hat er (als „Pathe Seume“) seiner Nichte Johanna Sophia Oehme (1798 – 1876) ein Gedicht gewidmet: Liebes, kleines Mädchen, / Wenn Dir bald vielleicht / Leinewand und Fädchen/ Deine Mutter reicht / Will ich Dir ganz klein / Einen Hausrath schenken: / Und Du magst hübsch fein / Mein dabey gedenken / Und recht artig seyn.

Karl Wolfgang Biehusen, Dipshorn 24.09.2015

Quellen

Robert Eberhardt: Seume und Münchhausen, Wolff-Verlag, Schmalkalden 2010

Jochen Deweß: „Die Seumestube in Leipzig-Rückmarsdorf“, in „Obolen“, Mitteilungsblatt der Johann-Gottfried-Seume-Gesellchaft zu Leipzig e.V., Nr. 3 aus 2005

Jochen Deweß: „Seumes Schwester in Rückmarsdorf“, in „Kippe“ (Straßenzeitung), Leipzig im August 2010.

Jörg Drews und Dirk Sangmeister unter Mitarbeit von Inge Stephan (Hg.): Johann Gottfried Seume Briefe, Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt am Main 2002.

Werner Otto Förster (Hg.): Veit Hanns Schnorr von Carolsfeld: „Meine Lebensgeschichte – Zugleich als ein Sonst und Jetzt in einem Zeitraum von 55 Jahren“, Turus Verlag Leipzig 2000

Eberhard Zänker: Johann Gottfried Seume – Eine Biographie, Faber & Faber Verlag, Leipzig 2005